Visual Thinking einfach erklärt
Haben Sie den Begriff „Visual Thinking“ schonmal gehört? Schon bereits seit einigen Jahren hört man von dieser „Arbeits- und Denkmethode“. Zu Beginn möchte ich zwei Gründe nennen, die mich motiviert haben, daüber zu schreiben: Einen rund um Anwender, und einen rund um Anbieter.
Anwender in der Wirtschaft: Wir bei Visual Facilitators beobachten, dass unsere Kunden Visual Thinking oft eher unbewusst anwenden, oder nur auf einen Bruchteil der Möglichkeiten oder gar falsche Techniken zurückgreifen.
Anbieter am Markt: Visual Thinking als breiter Begriff verfügt über keine klare oder gar wissenschaftliche Definition, und wandelt sich auch beständig. Das führt dazu, dass es je nach Anbieter / Visual Practitioner unterschiedlich definiert und ausgelegt wird.
Hier Orientierung zu geben, ist die Intention dieses Artikels. Und wir bei Visual Facilitators pflegen die „Anti-Routine”: Wenn die Welt also immer mehr in Informationsüberforderung gerät, überlegen wir intensiv, was wir für unsere Kunden anders und vor allem besser machen können. Und da gehört diese Grundlagenmethode auf jeden Fall dazu. Steigen wir also ein:
Was ist Visual Thinking?
Visuelle Methoden gibt es inzwischen viele, und ihre Abgrenzung und Definition ist nicht immer trennscharf. So haben sich Tätigkeiten wie Graphic Recording und Visual Facilitation seit ihrer Erfindung erweitert, neue Methoden sind hinzugekommen wie Erklärfilme oder digitales Visual Harvesting online, und vieles mehr.
Visual Thinking liegt wie ein Meta-Fundament unter all diesen Visualisierungs-Methoden und liefert die Basis durch…
- das bewusste Nutzen und Arbeiten mit einer einfachen Bildsprache (Bildern, Symbolen, Linien, Personen, Zeichnungen und weitere Elemente),
- das Verbinden dieser Bildsprache mit schriftlichen Notizen,
- das bewusste Einsetzen von Metaphern und Storytelling,
- das bewusste Nutzen der visuellen Power unseres Gehirns und damit dem primären all unserer Sinne,
- das bewusste Nutzen kinestethischer, haptischer (analoger) Tätigkeiten: Papier und Stift,
- die Möglichkeit, Vorlagen und Templates einzusetzen und gar wiederzuverwenden,
- das bewusst visuelle Dokumentieren (etwa von Vorträgen oder Online Meetings).
Nun habe ich hier mehrfach den Begriff „bewusst“ eingefügt. Ja, diese Methoden funktionieren auch wenn ich sie unbewusst oder intuitiv einsetze – und das machen wir Menschen auch sehr oft. Dies zeigt bereits unsere Sprache, die voller Bilder und Symbolik ist. Nutzt Du visuelle Methoden jedoch bewusst, so verstärkt sich der Effekt.
Ist dabei gutes Zeichnen wichtig? Nein, das ist es nicht. Da es sich um eine Visualisierungs-Methode (in Abgrenzung zu Kunst, Illustration und Design) handelt, geht es primär um den Prozess. Etwas muss funktionieren und auf den Punkt sein, statt hübsch. Es geht um den Zweck, statt ums Bild. Und es geht wie erwähnt um den Prozess, statt um den Urheber des Bildes. Und neben dem Zeichnen ist auch ganz viel Schrift beteiligt. Aus diesen Gründen handelt es sich um eine Visualisierungs- statt eine Illustrations-Methode.
Beim Visualisieren nutzt Du einfache Standardelemente: Schrift, Symbole / Icons, Personen (eine Strichzeichnung ist ausreichend), verbindende Elemente (Linien, Pfeile, Container) usw. Ganz so, wie es jeder als Kind auch getan hat. Das Gehirn erkennt sehr einfache Darstellungen, die keinerlei Ästhetikanspruch haben, bereits bestens. Und das visuelle Denken beginnt. Mehr braucht es also nicht.
Visual Thinking hat eine sehr interessante Historie, die bis in zum Ende der 1960iger Jahre zurückgeht. Es basiert nicht auf Illustration, Design oder Kunst, die es alle schon weitaus länger gibt – seit der Höhlenmalerei. Mehr zur Geschichte ein anderes Mal!
Die Vorteile von Visual Thinking
Als Individuum:
- Das einfache Anfertigen von Notizen, Gedanken- und Planungs-Strukturierungen,
- den Blick auf das Wesentliche lenken (und Sachverhalte erfassen),
In der Gruppe:
- Die kollektive Erinnerung (Group Memory) bzw. das gemeinsame Verständnis verbessert sich und steigert damit das Potential der Gruppenproduktivität.
- Die Diskussion und das Miteinander fallen durch die visuelle „Reflektionsfläche” leichter. Ein gemeinsames Bild entsteht.
- Der immer wichtiger werdende Aspekt von Partizipation steigt, da die Informationselemente visualisiert werden und im Blick sind.
Für beide…
- Ein besserer Umgang mit eventueller Informationsflut.
- Das Denken im „Big Picture“, da dadurch Mustererkennung, Vergleichen sowie Inhaltselemente besser gefunden werden.
Ein Wort noch zu den Grenzen von Visual Thinking:
- Bei einer persönlichen Anwendung ist das Ergebnis nicht für andere einsehbar, man kann sich also in einer Gruppe nicht auf bestimmte Symbole berufen.
- Es kann vereinzelt die Tendenz bestehen, das Ergebnis zu stark zu beurteilen (schön, ästhetisch, vorzeigbar) – obwohl es darum nicht geht.
- Ein eventuelles Unterschätzen der notwendigen Interaktion zwischen Facilitator / Moderator der Veranstaltung und dem visuell arbeitenden Teilnehmer.
- Die Inhalte sind ungeheuerlich wertvoll für Ersteller (Individuum) und direkt Beteiligte (Gruppe) jedoch oft nicht selbsterklärend für Außenstehende. Dies bedarf weiterer Bearbeitung – die durchaus möglich ist und ebenfalls Visual Thinking als Basis hat.
Warum funktioniert all das?
Nochmal ein Ausflug in das Wunder unseres Gehirns: Auch wenn geschätzte 90% von dem, was man heute über das Gehirn weiss erst in den letzten 15 Jahren entdeckt wurde, vieles rund um Bilder war schon länger bekannt. Und wird trotz seines unglaublichen Effektivitäts-Beitrags wenig genutzt. Außer man bedient sich Visual Thinking!
Laut Rudolf Arnheim, einem der Erfinder von Visual Thinking, dokumentieren Bilder in Präsentationen nicht etwas Gesagtes oder Geschriebenes: er wies darauf hin, dass diese das Wesentliche zeigen. Wirkliches Gestalten, Entwickeln und Kreieren bedient sich dieser Aspekte, die wie erwähnt bereits im Gehirn angelegt sind.
Wie funktioniert das konkret?
Nehmen wir als Beispiel eine große Buchsammlung im Regal. Und zwar im Vergleich zu einer E-Book-Kollektion auf einem Tablet / iPad, in der gleichviele Titel auf Lektüre warten. Stelle ich Dir nun die Aufgabe, rasch ein bestimmtes Buch zu finden, so wirst Du stets in der Bibliothek im Regal schneller sein als in der E-Book-Übersicht. Das ebenso innerhalb eines Buches: Bitte ich Dich, in einem bestimmten Buch in der gedruckten Version etwas zu finden so wird Dir dies dort schneller gelingen als im selben E-Book.
Im Gehirn arbeiten alle Sinne vernetzt zusammen, und es zeiht dabei noch das zeitliche Erinnerungsvermögen hinzu. Das Buch im Regal wird rasch gefunden, da das Bewegen des Körpers, die Farbe / Höhe / Schrift des Buchrückens, die Buchtitel daneben, die Richtung im Regal, die Haptik des Buchcovers, die Beleuchtung und vieles mehr eine Rolle spielen. Gleichermaßen innerhalb des Buches: das Visuelle, Haptische und viele andere Sinne und Faktoren zusammen geben dem Gehirn ein reicheres Spektrum an Möglichkeiten, etwas zu erinnern bzw. zu finden.
Die heutige Informationsflut, und der Trend auch im Internet, alles noch visueller darzustellen, ist unübersehbar. Wird visuelles Arbeiten allerdings mit dem handwerklichen, kinesthetischen Vorgehen kombiniert, steigt der Nutzen. Auch das ist wieder eines der Wunder unseres Gehirns, wo kein Bildschirm mitkommt.
Visual Thinking praktisch angewendet
Nutzen wir dasselbe nun in einem Meeting, bei einem Brainstorming oder beim Notizenmachen, so kommen dieselben Effekte ins Spiel. Das Tolle: Es funktioniert umgehend ohne Zeitverzögerung, ohne Lernkurve und Kultur-begreifend. Und macht Spass.
Vergleichen wir nur einmal den Einsatz einer PowerPoint mit einem an die Wand gehängten Reihe von visualisierten Flipcharts: Die Präsentation läuft linear ab, es gibt also nur einen Weg hindurch: Slide 1, Slide 2, Slide 3,… Unser Gehirn priorisiert das, was am „lautesten“ ist oder chronologisch zurückliegt: ein bestimmtes, gerade gezeigtes Slide bleibt also in der Regel am besten in Erinnerung. Doch ist das auch das Wichtigste gewesen?
An die Wand gehängte visuelle Flipcharts wirken anders: Das Auge hat viele Einstiegspunkte (statt nur Slide 1), eine Vernetzung der Informationen über alle Charts hinweg kann stattfinden, die Bilder und Symbole wirken, und die beschriebene dem Gehirn innewohnende Priorisierungs-Tendenz ist ausgehebelt.
Das Beispiel des Meetings war nur eine der vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten. Du kannst visuelles Denken einsetzen beispielsweise…
…für Dich selbst:
- für das Anfertigen persönlicher Notizen (Sketchnotes),
- für ein Brainstorming oder eine Ideen- / Ideation-Session,
- für das Strukturieren der Inhalte und Information,
- um etwas Komplexes einfach darzustellen,
- um sich auf etwas vorzubereiten,
…für Gruppen oder gemeinsames Arbeiten:
- in Gruppenprozessen zum Fördern kollektiver Intelligenz und besserer Ergebnissicherung,
- bei Design Thinking Sessions,
- zur Produktentwicklung,
- in Veränderungsprojekten
- für Teamtreffen und schnellen Überblick,
- für Projektpläne die wirklich Übersicht schenken,
- in Online-Konferenzen durch das Einbinden eines visuellen Kollaborations-Boards,
- um ein andere Visualisierungen zu planen, z.B. ein Graphic Recording,
- und wie erwähnt für klassische Meetings.
Wer setzt Visual Thinking ein? Egal ob in Bildung, Change Management, Beratung, R&D, Produktentwicklung, Projektmanagement oder in der Familie – visuelles Denken liefert einen Beitrag. Visuell denken = mehr wahrnehmen = besser gestalten und entscheiden. So zum Beispiel…
- als Projektmanager,
- in Scrum- und Agile-Rollen,
- in Rollen im Bereich New Work,
- als Coach, Berater, Facilitator oder Graphic Recorder,
- als Student oder Lehrender,
- als Führungskraft zur Vorbereitung auf Meetings und Projekte,
- als Wissensarbeiter jeglicher Art,
- alle die zuhause Notizen für sich und andere machen.
…und vieles mehr!
Es ist ganz einfach. Nicht umsonst heisst eines der ersten und bekanntesten Bücher zum Thema „Auf der Serviette erklärt: Mit ein paar Strichen schnell überzeugen statt lange präsentieren” (von Dan Roam, siehe hier).
Ein Stift und eine Serviette oder ein Bierdeckel reichen zum Start und die Ideen wie Gedanken haben einen Landeplatz. Und Visual Thinking ist damit eine Ergänzung zu bestehenden guten Arbeits-, Zusammenarbeits- und Denkmethoden. Hochwirkungsvoll.
Fazit zu Visual Thinking
Visual Thinking und seine Wurzeln zeigen, dass das „Visuelle Denken” beim weitem kein zusätzlicher Sonderbereich unseres Denkens ist. Sondern ein wirklich grundlegender Bestandteil unseres menschlichen Gestaltungs- und Denkvorgangs ist. Und damit – Fazit: Visual Thinking ist zu wirkungsvoll, um es zu ignorieren.
Es lässt sich nahezu überall einsetzen, auf individueller Ebene als auch in Gruppen. Und da es erstens auf einer einfachen Bildsprache basiert und es zweitens nicht um hübsche oder kunstvolle Bilder geht, sind die Anwendungshürden sehr klein. Mein Tipp: da man dies erstmal nur im Kopf weiß, lohnt sich ein erster Sprung ins kalte Wasser (das heisst: einfach starten!) und dann wird es zu einer Erfahrung, dass dies einfach ist und schnell geht.
Dies ist auch unsere Einladung. Wir laden dazu ein, visuelle Methoden mit der hier vorgestellten Grundlage „Visual Thinking“ viel stärker in allen Prozessen und allem Arbeiten zu einzusetzen. Sprich in allem Bereichen, in denen „gedacht“, entwickelt, gestaltet und kreiert wird.
Zukunft gestalten. Visuell. Bist Du dabei?